Rundbrief 2: Dar es Salaam, den 19.10.2012
Von Afrikabildern in unseren Köpfen, holprigen Busfahrten und abenteuerlichen Englischstunden
„Du weißt, dass du dir nicht vorstellen kannst, wie es in Afrika ist,
also stellst du es dir erst gar nicht vor. Und dann bist du da unten
und es ist ganz anders, als du es dir nicht vorgestellt hast“.
Hubert von Goisern über Afrika
Ich sitze in meinem Zimmer, der Ventilator brummt mir um die Ohren und ich höre die Kinder, die laut schreiend aus der Schule heimkommen. Da springt mir dieses eine Zitat in meinem Reiseführer in die Augen, diese einen Worte von Hubert von Goisern, über die ich mir schon in Deutschland den Kopf zerbrochen habe. Und nun begreife ich, dass ich wohl erst 7000km weit fliegen musste, dass ich wohl erst einen kleinen Kulturschock gebraucht habe, um „es“ zu verstehen.
Natürlich macht man sich vorher Gedanken darüber, wie es denn so sein wird, da unten, im fernen Tansania. Man will ja nicht unvorbereitet starten, sondern am besten schon alles wissen über die Einheimischen und deren Traditionen, über die Politik und die Gesellschaft, um möglichste jedes Fettnäpfchen zu vermeiden. Und insgeheim freut man sich schon darauf, endlich einzutauchen in den bunten Kontinent, der, wenn nicht gerade von neuen Hungerkatastrophen und politischen Aufständen, oftmals in den Medien als so lebensfroh und lebendig beschrieben wird.
Aber gleichzeitig bekommt man im Vorbereitungsseminar immer wieder gesagt, wie wichtig es auch ist, sich davon zu lösen, von den Afrikabildern in unseren Köpfen. Von den Vorstellungen romantischer Lagerfeuer in den goldbraunen Savannen oder von dem Wunsch, die nächste „Weiße Massai“ zu werden. Und auch ich habe versucht, mit so wenigen Vorstellungen wie möglich anzukommen, um erwartungsfrei alles Neue auf mich einwirken zu lassen. Schließlich wollte ich mich nicht von dem, was ich man in Deutschland so alles zu hören bekam, beeinflussen lassen. Da war ich mir auch noch sicher, dass das klappen wird.

Jetzt merke ich, dass es „ganz anders ist, als ich es mir nicht vorgestellt habe“. Naja, vielleicht nicht unbedingt „es“, aber zumindest doch schon ganz vieles. Wer hätte denn gedacht, dass das Handy hier Statussymbol Nummer 1 ist? Noch wichtiger als Kleidung und als das Auto sowieso? Und dass sogar die Schwestern diesem Kult längst hemmungslos verfallen sind? Ich jedenfalls nicht, und manchmal starren mich die Menschen im Bus an, als würde ich mit meinem mittlerweile vier Jahre alten Samsung Aufklapphandy von einem weit entfernten Planeten stammen, auf dem noch Schwarz-Weiß- Filme und Dauerwelle in Mode sind.
Da drehe ich mich doch lieber zur Seite, lasse mein Handy schnell in meiner Tasche verschwinden … und erwische ich mich dabei, wie ich heimlich aus dem Fenster in eine kleine, versteckte Seitengasse reinspicke, um endlich mal einen typischen Massai zu sehen. Einen echten, mit ganz viel buntem Schmuck, Hirtenstab in der Hand und rotem Tuch über der Schulter, denn ich will ja auch ein tolles Erinnerungsfoto schießen und noch meinen Enkeln von meinem Afrika-Abenteuer erzählen können. Und genau in diesen Momenten merke ich dann: Da sind sie wieder, die Afrikabilder in meinem Kopf, die sich heimlich, still und leise dort eingenistet haben und wahrscheinlich auch nicht so schnell verschwinden werden. Die immer wieder zum Vorschein kommen, ob man will oder nicht: Wenn die Frauen ihre Einkäufe auf dem Kopf balancieren, wenn Bettlern auf der Straße einem die Hände flehend entgegenstrecken oder wenn man im Einkaufszentrum bewaffnetem Sicherheitspersonal begegnet.
Mir wird immer mehr bewusst, dass sie wohl einfach dazugehören, die Vorstellungen und Erwartungen. Dass in meinem Kopf die typischen Bilder vorhanden sind, die wohl alle nach Afrika Reisenden haben. Da ist es dann auch egal, ob man Tourist, Manager oder Freiwillige ist, geprägt sind wir alle von dem, was uns Fernsehen, Zeitung und Co. erzählen.

Das ein oder andere wird vielleicht bestätigt werden, aber wirklich interessant wird es erst dann, wenn man akzeptiert, dass die Erwartungen und Bilder einfach dazugehören. Auch wenn dies viel Zeit benötigt, oftmals mühselig ist und auch enttäuschend ist – nämlich dann, wenn sich der Massai an der Ecke als verkleideter „normaler“ Tansanier entpuppt, der Geld dafür verlangt, wenn man ihn fotografieren möchte – aber dieser Prozess ist unverzichtbar. Denn erst so kann man beginnen, sich langsam der Realität zu öffnen. Und wirklich ankommen.
Seit mehr als drei Wochen wohne ich nun hier in meinem Projekt, im Sping of Hope – Kinderheim der DMI Sisters. Beim täglichen Zusammenleben mit 22 Mädchen zwischen fünf und fünfzehn hat mich die Realität nun fest im Griff, denn da heißt es bei Hausaufgaben helfen, still zu sitzen, wenn fünf Mädels Zöpfe flechtend an meinen Haaren ziehen und versuchen, mit meinen wenigen Brocken Swahili „Der Fuchs geht rum“ zu erklären.
Die Kinder, die hier leben, kommen aus armen Verhältnissen und schwierigen familiären Situationen. Die meisten von ihnen haben nur noch ein Elternteil, manche sind Waisen. Viele der jüngeren Kinder, die erst seit Januar hier leben, stammen aus Songea, einer Stadt im Sünden Tansanias. Hier in Dar es Salaam wird ihnen ein halbwegs normales Leben mit geregeltem Essen und Schulbildung ermöglicht, denn ihre Heimatstadt Songea liegt in einem der ärmsten Gebiete Tansanias. Ein Teil der DMI – Schwestern lebt dort, um ähnliche Projekte wie hier zu koordinieren.
Gleich in meiner ersten Woche hatte ich die Gelegenheit, für fünf Tage nach Songea zu reisen, da dort der von den Schwestern organisierte Women‘s and Children’s Day stattfand. Dafür musste ich dann 16 Stunden Busfahrt auf holpriger Straße in Kauf nehmen – inclusive fünfminütiger Klopause mitten in der Pampa, in der ich die ganze Zeit betete, dass mir kein Löwe in den Hintern beißt. Doch trotz dieser Strapazen hat sich die Reise wirklich gelohnt: Nicht nur, dass ich bei der Busfahrt durch einen Nationalpark endlich mal Elefanten, Zebras und Antilopen in freier Wildbahn sehen konnte, aber vor allem, weil Songea eins bietet, an was es hier in Dar es Salaam erheblich mangelt: Wunderschöne, weite Landschaften, rote Lehmhütten und eine herrliche Ruhe am Abend, die nur vom Zirpen der Grillen unterbrochen wird (tja, so viel zu Afrikabildern in unseren Köpfen 😉 ).

Nach ein paar Tagen Vorbereitung, die für uns Freiwillige eigentlich nur aus Zuschauen und Papierblumen-Basteln bestanden, fand der große Tag statt. Fast zweitausend Frauen und Kinder, mit welchen die Schwestern in ihren Gruppen zusammenarbeiten, sind aus den umliegenden Dörfern angereist. Neben einem zwanzigminütigen Marsch, während dem die Kinder Schilder hoch hielten, auf denen Forderungen in Bezug auf Kinderrechte wie Spielen&Essen zu lesen waren, gab es einen großen Festakt, der zu Ehren der Vorsitzenden der Kinder- und Frauengruppen stattfand. Am nächsten Tag ging es dann zurück in den Großstadtdschungel, wo wir endlich mit unsere Arbeit starten konnten. Dachte ich zumindest, den hauptsächlich bestanden unsere ersten Tage aus Warten, Rumsitzen und Fragen. Arbeit gab es noch keine spezielle für uns, sondern lediglich irgendwann die Anweisung „Bringt den Kindern irgendwas bei“! Aus dem „Irgendwas“ wurde nun mittlerweile eine abendliche Unterrichtseinheit in Englisch oder Mathe, die trotz meiner mangelhaften Kiswahili-Kenntnisse unglaublich Spaß macht.
Auch wenn ich zu Beginn wirklich geschockt war, dass bei vielen Kindern die Grundkenntnisse fehlen, bin ich stolz darauf zu sehen, wie viel sie aus den Lernstunden mitnehmen. Neben den Unterrichtsstunden am Abend arbeite ich morgens im Büro, wo Berichte schreibe und das Programm für die Kinder vorbereite. Egal ob Bewegungs-, Gruppen-, oder Brettspiele – die Mädchen
lassen sich für alles begeistern und ihre Freunde und Energie reißt mich jedes Mal auf’s Neue mit. Da die Kinder leider so gut wie kein Spielzeug haben, ist immer viel Kreativität gefragt und ich bin wirklich froh über die vielen Spiel- und Bastelmaterialien, die ich dank eurer Spenden mit nach Tansania nehmen konnte. Mama bereitet schon ein Paket mit Nachschub vor=)

In den vier Wochen, die ich nun hier wohne, habe ich mich wirklich schnell eingelebt, was vor allem an der Offenheit und Herzlichkeit der Kinder liegt. Und ich spüre, wie sehr sie sich freuen, dass jemand da ist, mit dem sie spielen können, kuscheln und dem sie die blonden Haare verwursteln dürfen.
Ich genieße es wirklich, so eng mit den Kindern zusammenzuleben. Sie sind nicht nur einfach meine „Arbeit“, die zu bestimmten Zeiten erledigt werden muss, sondern ich bekomme die Möglichkeit, richtig an ihrem Leben teilzunehmen. Neben Spielen und Lernen gehört auch das gemeinsame Beten, Abendessen und zu Bett gehen dazu. Und dabei lerne ich viel von den Kindern – beispielsweise wie Wäsche auch ohne Waschmaschine sauber werden kann (auch wenn ich ehrlicherweise zugeben muss, dass ich danach immer einen Krampf in den Handgelenken habe und meine Finger wund sind), wie man eine Kokosnuss möglichst schnell klein raspelt und wie man Mandazi (ein typisch afrikansiches Teigebäck und meine absolute Lieblingszwischenmahlzeit) bäckt. Trotz allem musste ich schon einige Enttäuschungen hinnehmen, und auch die anfängliche Euphorie im Zusammenleben mit den Schwestern hat mittlerweile etwas nachgelassen. Aber auch das gehört dazu – die Arbeits-, Kommunikations- und Erziehungsmethoden der Schwestern zu akzeptieren, selbst wenn die manchmal für mich etwas seltsam wirken. Das Fazit nun nach fast zwei Monaten Tansania? Alles ist ganz anders, als ich es mir nicht vorgestellt habe 🙂
Ich wünsche euch allen zu Hause eine wunderschöne Herbstzeit, und schicke euch viele Grüße aus dem angenehm warmen und sonnigen Tansania, wo es gerade Frühling wird…
Kwa heri, bis bald,
Maleen